Große Menschen

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Das Leben, wozu leben wir es? Ist es nicht für Großes gedacht? Und für Zartes? Eines Tages, sagte eine Freundin neulich, eines Tages werden wir zurückblicken und was werde ich meinen Kindern sagen? Was werde ich erzählen über das, was wir damals wirklich getan haben?

Die Frau, die eben bei uns im 5.Stock wohnte, hat ihren Mann und ihr Kind bei der Flucht verloren. Sie sind ertrunken. Jedesmal wenn sie mich sieht, lacht und winkt sie. Sie freut sich und ich bin immer wieder überrascht, wieviel Würde und Freude Menschen ausstrahlen, die so viel erlitten und verloren haben. Mit ihnen fühle ich mich am Leben. Das ist eine Kraft, die ich kaum fassen kann, eine Liebe, die so sanft ist, obwohl sie von der zerstörten Heimat spricht.

Wir sitzen mit Hamed, seiner Frau und ihrem Baby in der Küche und sie haben uns die köstlichsten Gerichte aufgetischt. Sie sind eben erst in Deutschland angekommen. Sie standen auf der Strasse mit einem dieser nutzlosen Hotelgutscheine, die das Lageso nie oder erst nach einem Jahr bezahlt. Sie haben fast nichts. Aber sie kochen uns feinstes Essen, wie man es in ganz Berlin nicht bekommen würde.Warum sind es immer die Ärmsten, die das Beste mit einem teilen? Und Lachen. Jede dieser Runden im Haus ist fröhlich. Und traurig. Als bräuchte wahre Freude Trauer. Mohamed kommt zum Essen, tut überrascht, dass gekocht wurde. Nach einem Teller gibt er zu, dass er von dem Essen gehört hat. Lachen. Ein Fest. Und Witze über den Nahen Osten, Assad, alles, überhaupt nicht political correct, aber aus tiefstem Herzen. Menschen, an die ich mich anlehnen kann wie Johannes an Jesus beim Essen, und am Lagerfeuer. Zärtlich. Nah.

Bei der Einweihung des Refugio flog meiner Nichte Edith gerade der blaue Ballon weg als Gerold in seiner Einweihungspredigt erzählte, wie Gott alle Tränen wegwischen wird in der neuen Welt, die Johannes in der Offenbarung sah. Edith war erst untröstlich. Der Saal, bis zum Rand voller lichter Menschen, Lachen, hinten die syrischen Frauen in Kopftuch, die munter ihren ersten Tag in Deutschland mit Smartphones filmten. Edith bekam einen neuen Ballon. Ich wischte ihre Tränen weg. Was für ein Moment, so mächtig, so zart. Dieses Kind auf meinem Arm, der Trost, die Freude.
Später tanzten die syrischen Männer im Cafe, einige holten sich Taschentücher, mit denen sie im Kreis tanzten und wedelten. Die Heimat ist verloren, hier beginnt ein neues Zuhause.
Gerold und ich waren berührt, zutiefst. Wieder diese mächtige Zärtlichkeit. Und die tanzenden Männer waren wie Johannes mit Jesus, hatten diese respektvolle, großzügige Nähe zueinander, so wie manche der Somalimänner im Haus, die oft Hand in Hand gehen. Nicht betont, nicht haltend, sondern sich ergebend.

Manchmal kommt mir Deutschland klein vor. Schaffen wir das? Deutschland ist groß. Groß in vielem, bewundernswert. Ich bin dankbar hier aufgewachsen zu sein. Was für ein zerrissenes, dramatisches Land. Was für ein Land großer Träume. Und auf einmal kommen von woanders: Große Menschen.
Wir sprechen hier im Sharehaus oft von dem Potential eines jeden Menschen, dem Talent, das Gott jedem gegeben hat. Und tatsächlich, die Götter haben etwas Mächtiges in jedem Menschen angelegt. Etwas gewaltig Schönes. Etwas, das über jedes weltliche Maß hinausgeht. Das ist nicht der Übermensch, denn die Nazis haben dumm die Rechnung ohne Gott gemacht. Dem Herrenmensch fehlte jede Größe. Das wirklich zärtlich Mächtige in jedem Menschen dagegen ist das Göttliche.

In den Menschen, die mühsam und verletzt und zerbeult zu uns kommen, sehe ich diese göttliche Größe und ich bin begeistert. Endlich große Menschen. Oh wie sehr ich begreife, dass ich sie nicht verbessern, massregeln, einlagern oder politisieren darf, sondern wertschätzen und ihnen Schutz gewähren.
Sind die Deutschen denn klein? Ich begegne überall großartigen Deutschen. Also Einheimischen, deren Familien ebenso irgendwann vertrieben wurden, geflohen sind, eingewandert. Es gibt den Deutschen nur als bunten Hund. Aber auch der kann manchmal ganz schön klein sein. Spiessig. Das ist das alte Wort dafür. Verängstigt, bitter, böse und weinerlich.

Diese Art Deutschland ist tatsächlich zu klein für die großen Flüchtlinge. Man kann keine Riesen in einer Hundehütte unterbringen. Da ist dann schnell kein Platz mehr. Und irgendwann sind auch die letzen alten Kleider statt beim Müll bei den Geflüchteten gelandet, die letzte studierte Bürgerstochter, die unbedingt helfen wollte, ist weitergezogen, und dem letzten Workshop, der unbedingt irgendwie was mit Flüchtlingen machen wollte, ist die Puste ausgegangen. Was dann?

Wir schaffen das. Ist das ein kluger Satz? Ja, das ist wahre Größe. Da spricht ein großer Traum, nicht der von Angela Merkel, sondern es ist der Glaube and die wahre Größe im Göttlichen, der sie das sagen lässt. Wie klein dagegen die Politiker, die von Überforderung sprechen. Ihr Armen, ihr Kleinherzigen. Ihr seid die Erben des großen Schocks, der bis heute unser Leben prägt. Damals ergriffen die Kleinherzigen mit großen Sprüchen die Macht und vernichteten mehrere Millionen Menschen, davon sicherlich die meisten in Kultur und Herzen weit größer als die Nazis.
Jetzt kommen ein paar Hunderttausend und wir sind an unseren Grenzen? Dass ich nicht lache. Die angebliche Krise wurde aufgefangen von zahllosen Menschen mit wahrer Größe, Beamten, Polizisten, Nachbarn, Studenten, Menschen wie du und ich, die sich die Mühe machen, nicht nur zu Helfen, sondern zu lernen und willkommen zu heissen. Das ist das große Deutschland, das leicht  6 Millionen Menschen aufnehmen kann im Ausgleich zu 6 Millionen umgebrachten Juden? Das wäre keine Wiedergutmachung. Nur Vergebung kann heilen. Aber es wäre eine Geste wahrer Größe.
6 Million Menschen aufnehmen, die vor Krieg und Terror fliehen? Klar geht das, das sind nur halb so viele wie nach dem Krieg ins zerstörte Deutschland flohen.
Groß denken, noch grösser Träumen. Vor einem Jahr war ein ganzes Haus mit 5. Stockwerken mitten in Berlin noch ein großer Traum. Belächelt. Beseufzt. Ja ja, das wäre schön. Hätte, hätte, Fahrradkette. Und gestern stand Fatuma im neuen, schönen und belebten Cafe und sagte, sie dachte wir reden nur groß. Als wir vor drei Monaten einzogen, war das Foyer des 5.stöckigen Hauses dunkel, trist, und ein trauriger Seniorenheim-Empfang füllte wie ein toter Wal den Raum. Fatuma, die Ahnungslose, die gratis U-Bahn in Berlin gefahren ist bis sie erwischt wurde, und die eine ganze Weile lang freundlich “Gesundbrunnen” zu jedem Niesenden sagte, sie ist wie alle im Haus kene Geflohene, sondern ein Geschenk.

Und was haben wir davon? Wir könnten endlich wachsen. Wozu leben wir sonst? “Eines Tages werden wir sterben. Aber an allen anderen Tagen werden wir leben,” zitierte der jetzt tote Hennig Mankell seinen Kollegen P. O. Enquist.

Jeden Tag am Leben sollten wir aus dem Vollen schöpfen. Der mächtigen Zärtlichkeit sind keine Grenzen gesetzt. Der Tod dagegen ist klein. Eine Null. Unsere Freunde im Haus sind ihm auf der Flucht begegnet. Seiner Armseligkeit. Deshalb lachen sie, freuen sich, teilen trotz Armut, trauern,und sie sind hungrig nach mehr im Leben. Denn sie sind groß.

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