Identität

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Identität. Ein ganz wichtiges Thema im Sharehaus, an dem wir arbeiten, vor allem nach Jahren der Erfahrung.

Das neue Jahr hat begonnen und so halb stehen wir zwischen dem was war, und dem, was wir hoffen. Wie Herr Kurz. Herr Kurz sitzt in seinem Zimmer mit nur einem Hut auf. Sein Freund Herr Lang kommt herein und fragt ihn. “Warum sitzt du denn mitten am Tag nackt in deinem Zimmer?”

“Ach”, sagt Herr Kurz, “ es kommt mich ja eh keiner besuchen.”

“Und warum dann der Hut?”

“Na, vielleicht kommt ja doch noch jemand!”

Alle Unentschiedenheit scheint aus unserer Identität zu kommen. Nur wer bin ich? Wer bin ich wirklich? Diese Frage hat mich immer schon beschäftigt, und war auch ein Grund das Sharehaus zu gründen. Wertschätzung, Gemeinschaft, Sinn suchen wir, und finden es so selten. Dabei sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht, scheint es.

Wer, was bin ich? Held, Versager, Ausländer, Liebender, Träumer, Freund, Kind? Bin ich ein echter Deutscher, heimatlose Perserin, von Geburt adelig, stolzes Arbeiterkind, verheiratet, schwul, hetero, exzentrisch, manisch-depressiv, doof, superschlau Akademiker, Autodidaktin, Tänzerin, Nomade? Oder sind das nur Äusserlichkeiten?

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Was könnten wir nicht Schönes anfangen, wenn wir uns nichts ständig selbst suchen müssten wie eine ständig verlegte Brille. Und wenn wir erst wüssten, was wir wirklich wollen! Hut, nicht Hut?

Theresa von Avila trug eine Kopfbedeckung, als Nonne. Die spanische Mystikerin war durchaus auf der Suche nach dem Selbst, nicht um sich zu finden, sondern all die Räume und Möglichkeiten, die Gott uns gegeben hat, sie nannte es Wohnungen der Inneren Burg. Wer sich verstehen lernt, kann auch in der Welt bestehen als göttliches Wesen. Ein Hinweis auf den inneren Reichtum, zu dem wir gleich kommen.

Zurück zur Suche. Wäre das das Paradies, wenn wir uns nicht mehr suchen müssten? Wenn wir wie Kinder sein dürften? Wen scherts, dass wir nackt sind! Der Philosoph Rousseau*, der unsere Moderne zutiefst geprägt hat, war Autodidakt und Romantiker: Er behauptete, daß jeder Mensch gut und nur von der Gesellschaft verdorben ist. In beidem steckt Wahrheit. Aber den von der Romantik erfundenen Edlen Wilden gibt es nicht. Auch unentdeckte Naturvölker sind grausam, und so sind oft unsere Gesellschaften. Trotzdem sind wir ursprünglich gut, und Gemeinschaft gehört zu unserer Identität. Was macht es denn dann so schwer in Frieden miteinander zu leben?

Die Hölle, das sind die Anderen, sagte Jean Paul Sartre. Insofern wäre alle Gesellschaft oder Gemeinschaft Hölle. Leben ist Leiden und wir sind dazu bestimmt es zu ertragen? Wirklich? Ja, andere Menschen sind oft schwer zu ertragen. Und so sind wir selbst es auch. Sind wir deswegen weniger wert?

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Wertschätzung. Jahrhunderte von moralischer Religiosität und Machtinteresse haben uns erzählt, wir sind nichts wert. Es hat gewirkt. Selbst heute noch fühlen sich selbst aufgeklärte, selbständige Menschen wertlos, schmutzig, nutzlos. Mächtige nutzen das. Wer auch immer Erlösung verkauft, muss erstmal mangelnden Selbstwert verkaufen. Manche Versprechen Arbeitsplätze, andere einen Himmel, oder noch ein Produkt, das glücklich macht.

Und doch ist da eine innere Stimme, die manchmal nur flüstert: Du bist schon wertvoll, gut genug. Mach was draus. Nur wer ermutigt uns? Wozu überhaupt Mut? Wozu überhaupt was tun? Ist nicht alles vorherbestimmt? Fatalisten gibt es häufiger als man denkt. In den Weltreligionen, aber auch politisch. Was kann ich schon ändern? Nie haben sie ihre wahre Freiheit begriffen.

Noch häufiger definieren Menschen sich über den Vergleich. Wir sind die Besten! Und unsere Nachbarn oder wer auch immer: die Schlimmsten! Nationalität, Kultur, Herrschaft, Geschlecht, Klasse will sich oft nur durch den brutalen Vergleich behaupten. Jeder Krieg beginnt so. Die anderen müssen lausig sein, damit wir großartig sind.

Wir leiden alle unter dem Problem, dass wir besser sein wollen als andere. Es ist eine Versuchung. Die gefühlte Bedrohung durch Geflüchtete ist eine Angst, selbst nicht gut genug zu sein. Wir haben, wir sind so wenig! Was wollen die hier!? Wären wir selbstbewusster, wir wären gastfreundlicher, und auch bestimmter in unseren Erwartungen an Einwanderer.

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Moment. Ist Identität vielleicht mehrere? In vielen Kulturen ist die Gemeinschaft Identität, der sich alle unterordnen. Das bietet Schutz, macht alle gleichwertig, verhindert aber manchmal schöne, herausragende Individualität durch Neid. Wir im Westen haben auch dieses gute wie schlechte Stammesdenken. Nationale, kulturelle, spirituelle Identität einer Gemeinschaft ist etwas sehr wichtiges, wenn sie sich nicht vergleichen muß. Deutsch sein ist gut, besser oder schlechter sein nicht. Fällt mir immer noch schwer das zu schreiben, weil gerne Deutsch zu sein tabu war in meiner Erziehung. Dabei ist es großartig. Gerade Ankommer haben mir das wieder beigebracht.

Also gibt es eine gemeinschaftliche und eine Individuelle Identität? Die Griechen entwickelten aus Individualität und Gemeinschaft die Demokratie. Anführer wurden gewählt, weil sie der Sache dienten und geeignet oder begabt waren. Alexander der Große war Gleicher unter Gleichen, aber durfte wegen seiner Begabung führen. Kaum hatten sie Babylon und Persien erobert, wollte er dass seine Kameraden sich vor ihm verbeugen. Sie haben ihn ausgelacht.

Die wilde und ehrliche Geschichte des Alten Testaments beschreibt etwas Ähnliches. Ein Volk auf der Suche nach Sinn, Heimat, Führung. Der Stamm, die Familie zählt, die Auserwählten sind die Nachkommen Abrahams. Im Übereifer wird der Rest wird oft weggefegt. Die Griechen hatten kaum Achtung für die Barbaren, die Israeliten für andere Völker. Gott wurde oft zum Ebenbild ihrer menschlichen Grausamkeit gemacht. Und doch offenbart sich im Narrativ immer wieder ein Gott der Schönheit und des Friedens, und an der Seite herausragenden Menschen. Und die sind oft keine Israeliten, sondern Aussenseiter wie Ruth. Nicht ihre Herkunft hebt sie hervor, sondern ihr Herz.

Das Herz zählt. Das fand ich auch im Sharehaus Refugio heraus. Egal wie bunt die Mischung. Glaube, Tradition, Herkunft sagten nach einer Weile sehr sehr wenig aus über einen Menschen. Man muss Äußerlichkeiten nur durch Vertrauen und echte Gemeinschaft überwinden.

Individuum. Gesellschaft. Gott. Wie Herr Kurz fühlen wir uns oft nackt, allein und doch behütet.

Was hat das mit Gott zu tun?

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Zur Identität gehört mehr als nur der Einzelne und eine Gemeinschaft. Die meisten Menschen auf dieser Welt begreifen sich als Teil einer göttlichen Schöpfung. Eigentlich abwegig zu glauben, wir wären die Klügsten, die Herrscher der Welt. Wir sind göttliche Geschöpfe, nicht Gott. Hier führt eine Spur zu unserer Identität, die weniger wahllos ist. Sie zeigt auf, daß wir lebende Kunstwerke sind.

Hier ist das Echo unserer Vermutungen. Wir sind Gemeinschaft, wir sind Individuen, wir sind Geschöpfe. Jeder von uns ist anders als andere, aber nichts Besseres. Wir sind kostbar, aber auch gebrochen. Wir sind wertvoll und doch frei das Falsche zu tun.

Prinz Buddha befreit sich aus der heilen Welt seines Königsschlosses und lernt durch Tod und Elend den Weg der Transzendenz, den Weg der Mitte. Wir sind bestimmt eins zu sein mit dem Göttlichen.

Jesus geht den entscheidenden Schritt weiter. Unsere Göttlichkeit bekommt eine Gestalt, ein Gesicht, sie wird persönlich. Alles wird umarmt, Gott wird der vergessene Mensch im Gefängnis, der Waise, Kranke. Nichts ist mehr ohne Würde, alles ist voller Konsequenz. Nichts und niemand ist vergessen, kein Mensch, keine Schöpfung. In Jesus begegnen wir Gott und einem Menschen. In ihm erkennen wir uns selbst, weil wir größer sind als unsere Gestalt in dieser Welt. Wir sind verantwortlich für diese Welt.

Schön die Geschichte von Jakob, der die ganze Nacht mit Gott ringt. Gott wundert sich und denkt, der ist aber stur. Und dann zeichnet und ehrt er ihn dafür. Jakob humpelt und ist gesegnet. (Genesis/1.Mose 32:22-32). Wir sind Beschädigte und Unendlich Geliebte. Das Ringen gehört dazu. Das Ringen mit Gott. Ein Gott, der größer ist als unsere Sandförmchen der Religionen und uns gerne überrascht. Denn nichts kann die Liebe wirklich aufhalten.

Du bist gut genug. Der Satz revolutioniert gerade unser Denken und Fühlen im Westen. Wo man hinsieht, überall Seminare, die einem das beibringen. Wir scheinen einen zivilisatorischen Sprung gemacht zu haben. Nach hartem Kapitalismus und arrogantem Atheismus ist da eine neue Öffnung für Spiritualität. Junge Menschen in Europa, im Westen, suchen nach Transzendenz, einem höheren Sinn. Und der ist nicht mehr Geld, Sex, Auto, Haus, Job, Familie. Identität ist tiefer. Höher. Weiter.

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Aber was ist Transzendenz? Ist nicht alles spirituell? Wenn wir Gottes Liebe spüren, zulassen würden, müssten wir wie ein Kind uns auch selbst wertschätzen und lieben können. Selbstliebe one Narzissmus, geht das?

Und wenn wir uns selbst lieben lernen in unserer Unperfektheit, können wir auch die unperfekten Anderen lieben lernen? Wir verändern die Welt, wenn wir Menschen wertschätzen. Es kann schon eine Geste, Zuhören, eine Umarmung, eine Einladung sein. Wir machen uns dieses Lieben oft viel zu kompliziert.

Lieben heisst sogar anders zu denken und zu sprechen. Über sich selbst und andere. Wir können nicht alles, aber wir haben unglaubliches Potential. Wie wir über uns und andere denken und sprechen formt unsere gemeinsame Wirklichkeit.

Sehen wir Gebrochenheit oder Potential? Unsere Kreativität, unsere Vorstellungskraft, unser Glaube an das Gute in uns und in Anderen ist eine oft vergessener Kraft unseres kreativen Potentials. **

Sich verlieren. Jetzt wird es seltsam. einerseits brauchen wir Disziplin das Gute zu denken und zu schaffen. Aber seltsamerweise müssen wir uns auch verlieren, wenn wir das Original in uns finden wollen. Für wahre Transzendenz muss das Ego sterben, damit ein gelassenes, erfülltes Ich und Wir leben kann.

Gott macht es vor. In Jesus wäscht er (oder sie) seinen Kindern die Füsse. Die Asketen wurden still in der Schöpfung, Mystiker schwebten in ekstatischer Verzückung. Musik, Tanz, Kunst, Liebe, Trauer, Freude. Wir wollen uns verlieren. Wer das ohne Drogen, Gewalt und Macht schafft, wer aus dem Moment schöpft, dem Reichtum des Seins, fühlt sich am Leben. Ist. Der Franziskanerpater Richard Rohr beschreibt das gut. In der Gegenwart liegt die Gegenwart Gottes. Der Moment, das Jetzt, hat eine unerwartete, göttliche Tiefe, in der man sich verlieren, in der man sein kann.

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Dienen. So viele Menschen sagen, sie haben Sinn gefunden für ihr Leben, wenn sie etwas Sinnvolles tun können. Lieben. Bei Mutter Theresa die Toten waschen. In der Suppenküche für die Obdachlosen kochen. Kinder aufziehen. Jemanden bedingungslos lieben. Wenn wir verliebt sind, suchen wir uns nicht. Wir gehen auf in der Liebe. In sofern ist Identität ein Weg, ein Handeln, eine Erfahrung. Die Menschen, die für die Geflüchteten in Zeiten der Not da waren und ihnen helfen konnten, sind für immer verändert. Und viele Ankommer leiden darunter, dass sie hier das Gefühl haben, nicht gebraucht zu werden. Wir wollen hilfreich sein. Es gehört zu unserer Identität.

Selbstaufgabe ist uns im Westen oft fremd, weil wir schon so beschäftig damit sind, uns zu finden. Wir leben mit vielen Missverständnissen. Was Glaube ist zum Beispiel. Glaube heisst nichts anderes als Vertrauen. Vertrauen, dass wir schön geschaffen, gut gemacht, wunderbar und fähig sind. Dass wir geliebt sind und dazu da zu lieben. Auch wenn die Welt uns etwas manchmal anderes erzählt.

Als Kinder haben wir noch oft dieses untrügliche Gefühl der überschäumenden Liebe. Wir erforschen, überschreiten alle Grenzen, freuen uns, wollen andere begeistern, sind wie Vogelschwärme, die an einem Frühlingsabend über Rom tanzen.

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Identität ist also vielschichtig. Wir finden uns nicht, wir sind. Unverwechselbares und kostbares Individuum, frei und fähig. Wir sind Teil einer Gemeinschaft, die uns fördert, der wir dienen. Und wir sind transzendenter Teil einer Einheit mit Gott, getragen und geliebt. Hier und jetzt. Sind wir? All das ist eine Entscheidung. Die Freiheit haben wir. Erwarten wir Besuch? Bleiben wir nackt? Setzen wir uns feierlich einen Hut auf?

Praktisch: Wie leben wir, was wir sind? Immer stärker wird uns und anderen klar, dass Gemeinschaft der Schlüssel ist. Zusammenleben, ob in einem Haus, einem Dorf. Gemeinschaft kann uns lehren geliebt, einzigartig und Teil von etwas Größerem zu sein. Darum glaube ich daß Sharehäuser als lernende Gemeinschaften so wichtig sind. Erkenntnis ist gut, Praxis ist besser, denn sie transzendiert.

Ist das alles wahr? Wenn ich auf meine innere Stimme höre, dann ja. Meine Erfahrung mit den Sharehäusern sagt auch: Ja! Wahrheit bringt Leben, sie lässt uns aufblühen, ist fruchtbar, bringt tiefe Freude, Dankbarkeit, Teilen, Wertschätzung, Geborgenheit, Leidenschaft, Sich reich fühlen. 

Wir sind. Wie bitte?

Wer sind wir? Was sind wir?

Wir sind geliebt. Damit fängt alles an.

 

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Bilder: Paros, Kykladen. Am 6. Januar wird in Griechenland die Taufe Jesu gefeiert. Bücher: * Sehr schön beschreibt Friedrich Sieburg Rousseau in seinem Buch Nicht ohne Liebe** Über die kreative Kraft des Glaubens schreibt Paul Yonggi Cho in The Fourth Dimension.

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